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Normally, I post the latest news about my projects in this blog. But now, I wanna present you my new shortstory. (German version)
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August Liesl
von Patrick Wagner
Bei einer Bürgerversammlung sahen sie ihn das letzte
Mal. Bis vor einigen Jahren lebte er in Neustadt, doch dann verschwand er ohne ein
Wort zu verlieren. War es Wut oder bloße Weitsicht? Im Nachhinein konnte das
keiner so genau sagen.
Der Bürgermeister lud an einem Mittwochabend die
gesamte Bürgerschaft zur Versammlung ein. Thema der Besprechung war der Bau
einer neuen Schnellstraße, die direkt durch den Stockberg führen sollte. Als
Referent war Prof. Dr. Dr. habil. Hermann Schadt eingeladen. Großmütig stand
der Referent vor den Bürgern und versuchte sie für sein Vorhaben zu begeistern.
Durch die neue Schnellstraße werde die Wirtschaft gestärkt, der Verkehrslärm um
vierzig Prozent dezimiert und die Attraktivität der Stadt gesteigert. Begeistert
schauten sich alle Bürger um. Das werde eine große Sache, versprach der
Referent. In den Augen des Bürgermeisters begann ein Leuchten, das sich schnell
auch in den Augen anderer Bürger wiederfand.
Überzeugt fuhr der Referent fort: „Die neue Schnellstraße
wird Neustadt direkt mit der Großstadt auf der anderen Seite des Stockbergs
verbinden. Dazu werden wir zu allererst einen Tunnel in den Berg sprengen.“
Einige Bürger schauten Skeptisch, doch der Referent erkannte dies und fügte
hinzu: „Keine Sorge, einer meiner Doktortitel ist in Geologie und ich habe alle
Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Dem Berg wird nichts passieren. Ich weiß, was ich
tue, immerhin habe ich studiert.“
Die Menge begann zu klatschen. Selbstgefällig
verbeugte sich der Referent. Nur einer klatschte nicht.
August Liesl saß in der letzten Reihe und verzog das
Gesicht. Er wusste, dass seine Mitbürger ihn nicht schätzten, weil er keinen
Schulabschluss hatte. Er heiratete auch nie, da alle Frauen, mit denen er sich
als junger Mann verabreden wollte, immer wieder betonten, sie wollen mit
niemandem ausgehen, der so dumm sei wie August. Mittlerweile war er Rentner und
ließ sich nur noch selten in der Öffentlichkeit sehen. Ab und zu ging er zum
Bäcker, wo er oft von der Verkäuferin über den Tisch gezogen wurde, weil er
nicht so gut im Kopfrechnen war. August Liesl verbrachte seine Tage damit, sein
Haus zu putzen und lange auszuschlafen.
Etwas verunsichert hob August seine Hand. „Sagen
Sie, Herr Schadt“, begann er, „kann es nicht passieren, dass wir durch den
Tunnel im Stockberg ein Problem bekommen könnten? – Immerhin liegt unser Ort
doch unterhalb des Meeres-...“ Grob wurde August vom Referenten unterbrochen:
„Glauben Sie mir, ich habe alles einkalkuliert. Ich bin Profi und habe etliche
Bücher über Tunnelgrabungen gelesen.“
„Das ist zwar alles schön und gut, ich möchte Ihre
Kompetenzen nicht infrage stellen, aber glauben Sie nicht, dass unsere Stadt
mit Wasser volllaufen könnte?“, fragte August vorsichtig. Doch der Referent
lachte ihn aus und mit ihm die ganze Stadt.
„Der dumme August schonwieder!“, lachte eine Frau in
der ersten Reihe.
Das Gelächter zog sich mehrere Minuten. Als sich
alles wieder beruhigt hatte, führte August seinen Gedankengang fort: „Auf der
Nordseite vom Stockberg regnet es immer außergewöhnlich viel. Der einzige
Grund, weswegen wir davon nichts abbekommen ist der Schutz durch den Berg. Wenn
der Tunnel gegraben wird, werden wir das Wasser wie durch einen Trichter in
unsere Stadt leiten.“
„Wir graben nicht, wir sprengen.“, fügte der
Referent hinzu und die Rathaushalle bebte erneut vor Lachen. „Ich habe
studiert. Ich habe sogar mehr als das, denn ich habe mehrere akademische Titel.
Und da will mir allen Ernstes der Dorftrottel erzählen, dass ich mich
verkalkuliert habe?“ Die Bürger krümmten sich vor Lachen.
„Verzieh dich doch, du dummer August!“, rief ein
kleines Mädchen und zeigte auf den alten Mann.
August Liesl rollte die Augen und verschwand aus dem
Rathaus.
Ein Jahr dauerte der Bau der Straße. Der
Bürgermeister und Professor Schadt schnitten zur Eröffnung feierlich das Band
durch. Etwas erstaunt bemerkte eine Frau ein dünnes Rinnsal, das die Straße
begleitete und Richtung Süden floss.
„Was ist das, Herr Professor?“, fragte sie erstaunt.
„Das sind nur die Reste des Grundwassers. Das fließt
bald ab.“, versicherte Professor Schadt.
Zwei Monate nach der Eröffnung des Tunnels war der
Wasserstand des örtlichen Flusses ungewöhnlich hoch. Doch der Professor
versicherte, dass auch das vorbeigehe.
Als nach vier Monaten der Fluss über das Ufer
getreten war, stattete der Bürgermeister dem Professor einen Besuch ab.
„Das ist das erste Mal, dass unser Fluss über das
Ufer tritt.“, begann er besorgt. Doch der Professor antwortete: „Das ist nicht
wahr; in einem Buch, das ich während meiner Diplomarbeit las, stand, dass der
Fluss im Jahr 1903 schon so weit über das Ufer getreten war.“
Der Bürgermeister verließ das Haus des Professors nur
mit größter Sorge.
Ein Jahr später war Neustadt von der Karte
verschwunden. Der Fluss verschlang den kleinen Ort. Durch das einfließende
Wasser aus dem Tunnel war er außergewöhnlich breit geworden. Die Menschen
verloren ihr zu Hause, ihre Grundstücke, ihre Heimat.
August Liesl bekam von
all dem nichts mit. Bis zu seinem Tod lebte er in der angrenzenden Großstadt
und hatte dort sogar Freunde gefunden. Er war immer der dümmste Bürger
Neustadts gewesen, doch hier in der Stadt gab es noch dümmere, denn der
Professor lebte auch hier.